Am 15. November 2010 fuhr eine Besuchergruppe der Freunde des Historischen Archivs der Stadt Köln e. V. zur Besichtigung des größten »Asyls« für Kölner Archivalien nach Münster-Coerde.
Eine Speicherstadt am ländlichen Stadtrand von Münster beeindruckt durch zehn mächtige Gebäude, die jeweils ca. sechzig Meter lang, ca. zwanzig Meter tief und fünfeinhalb Stockwerke hoch sind. Zwischen 1936 und 1939 wurde hier in Münster-Coerde im Rahmen nationalsozialistischer Kriegsvorbereitung eine große Heeresbäckerei errichtet – wie auch an etwa zwanzig anderen Orten im Reichsgebiet. Die Betonarchitektur wurde zur Aufnahme hoher Deckenlasten konstruiert, nämlich zur Aufnahme von insgesamt fast 40.000 Tonnen Getreide und zur industriellen Herstellung von Kommissbrot. Zum Anlieferung der Getreidesäcke und zum Abtransport der Brote wurde das Gelände mit einem Gleisanschluß und breiten Straßen erschlossen.
Die Anlage wurde im zweiten Weltkrieg nicht zerstört und seit Kriegsende von britischen Truppen als Kaserne genutzt. Die ehemalige Winterbourne-Kaserne am Bohlweg dient heute als modernes Büro- und Gewerbeareal.
Landesarchiv NRW Abteilung Münster
Seit 2006 ist auf diesem Gelände in Münster-Coerde eine große Außenstelle des Landesarchivs NRW, Abteilung Westfalen eingerichtet, in der unter anderem Grundbücher von allen sechsundfünfzig Amtsgerichten in Nordrhein-Westfalen archiviert werden. Die ursprünglich als Kornspeicher konzipierten Gebäude erfüllen in idealer Weise die klimatischen und statischen Anforderungen, die die Lagerung von Archivgut stellt und lassen sich optimal für den Werkstattbetrieb zur Aufarbeitung der eingelieferten Materialien nutzen. Wegen der großen Lagerkapazitäten konnte das Landesarchiv NRW Abteilung Münster daher nach dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln den größten Bestand von Kölner Archivalien als Asylarchiv übernehmen.
Begrüßung und Einführung
Die zwanzigköpfige Besuchergruppe aus Köln wurde von Frau Dr. Mechthild Black-Veldtrup, Leiterin des Staatsarchivs Münster, begrüßt und nach einer kurzen Einführung durch den Gebäudekomplex geführt.
Zunächst wurden die Kölner Archivalien in Augenschein genommen, die bis zur Sichtung in stabilen Pappkartons aufbewahrt werden. Dr. Ulrich Fischer, stellvertretender Leiter des Historischen Archivs der Stadt Köln, zeigte der Gruppe die Kartons, die bei der Bergung und Verpackung in Köln mit einer vierstelligen Nummer beschriftet wurden und nun in Rollregalen zwischengelagert werden.
Von dort werden die Kartons in einen Arbeitsraum gebracht, wo ihr Inhalt untersucht wird. Jedes Archivstück wird hier mit einem individuellen Strichcode versehen und an mehreren Computerarbeitsplätzen sofort in einer Datenbank erfasst, die als Online-Netzwerk mit dem Historischen Archiv der Stadt Köln und den anderen Asylarchiven verbunden ist. So ist für die Archivare und Restauratoren an den verschiedenen Standorten jederzeit der aktuelle Kenntnisstand nachvollziehbar.
Dr. Ulrich Fischer, stellvertretender Leiter des Historischen Archivs der Stadt Köln, erläutert der Besuchergruppe den Zustand einer geborgenen Archivalie.
Die Teilnehmer der Kölner Besuchergruppe konnten der Bearbeitung der gerade anstehenden Archivalien und dem Einlesen der Barcodes in die Datenbank beiwohnen, ein technischer Vorgang, der zunächst dem Erfassen von strichcodierten Waren an der Scannerkasse eines Supermarktes gleicht.
Bei der Erfassung in Münster-Coerde werden die einzelnen Stücke allerdings genau beschrieben. Dabei werden alle verfügbaren Informationen wie zum Beispiel erkennbare Signaturen, Bestandszugehörigkeiten und der aktuelle Zustand mit allen Merkmalen und Beschädigungen dokumentiert und sofort in die Datenbank eingegeben. Lässt sich eine Archivalie nicht eindeutig identifizieren oder zuordnen, wird der Datenbank neben der Barcodenummer eine Bilddatei, ein digitales Foto, beigefügt, das bei der Untersuchung angefertigt wird.
Dr. Elisabeth Tharandt und Björn Raffelsiefer, Archivare des Historischen Archivs der Stadt Köln, erläutern die Bergungserfassung
Die Archivalien, die bei der Bergung an der Einsturzstelle unsortiert eingepackt werden mussten, werden den Kartons in mehr oder weniger beschädigtem Zustand und in starker Durchmischung entnommen. Bei der Erfassung werden sie vorsortiert und dabei je nach Material und Restaurierungsverfahren geordnet. Kleine Papierschnipsel (»Köln-Flocken«) werden durchnummeriert und in Kartons gesammelt, um sie später mit digitalen Verfahren wieder zu ganzen Blättern zusammensetzen zu können. Filme und fotografische Archivalien wie Negative und Positivabzüge werden in separaten Behältern gesammelt, weil sie mit speziellen Restaurierungsverfahren wiederhergestellt werden müssen.
Dieser Besichtigung schloss sich ein Mittagessen in der Kantine der Speicherstadt an.
Restaurierung im Technischen Zentrum
Nach der Mittagspause gab Dr. Wolfgang Kahnert, Leiter des Technischen Zentrums in Münster-Coerde, eine Einführung in die unterschiedlichen Restaurierungstechniken, die hier angewendet werden.
Zuerst werden die Archivalien trockengereinigt, entstaubt. Anschließend wird eine Entscheidung über sinnvolle Behandlungsschritte getroffen, je nach Beschaffenheit und Beschädigung. So wird zwischen Nass- und Trockenbehandlung unterschieden.
Es gibt verschiedene Verfahren zum Glätten der Kölner Archivalien aus Papier und Pappe, die nicht nur zerrissen, sondern durch mechanische Kräfte und Wassereinwirkung auch dreidimensional stark verformt wurden. Die Besucher sahen auch Verfahren zum Zusammensetzen und Wiederherstellen von mittelalterlichen Siegeln an Urkunden sowie Anlagen zur Entsäuerung und Neutralisierung von Papieren. Während der Besichtigung wurden Plakate der Bühnen der Stadt Köln aus den 1960er-Jahren in einer Absauganlage entsäuert und ph-Wert-neutralisiert.
Plakate der Bühnen der Stadt Köln aus den 1960er-Jahren werden in einer Absauganlage entsäuert und ph-Wert-neutralisiert.
Dokumentation als Beleg für Schadenersatzforderungen
Im technischen Zentrum wird bei allen erfassten Archivalien vor der Restaurierung der Zustand der Beschädigung dokumentiert. Auch während der Restaurierung wird jeder Schritt bis zur Wiederherstellung mit verschiedenen Kulturtechniken (Beschreibung, Vermessung, Abbildung) dokumentiert, um später beim Verursacher des Archiveinsturzes detaillierte Schadenersatzforderungen geltend machen zu können.
Digitalisierung
Alle Archivalien werden nach der Wiederherstellung digitalisiert. Dabei werden die Gegenstände, nach Formaten sortiert, in schonenden Verfahren wie Scannen oder Fotografieren abgebildet. Es können Pläne, Plakate bis zum Format DIN A 0 (841 mm x 1189 mm) digitalisiert werden. Mit modernen technischen Einrichtungen wie Großformatscannern und digitalen Aufnahmekameras erhobene Bilddaten werden mit der Strichcodierung verknüpft, in die Datenbank eingegeben und stehen sofort im Netzwerk zur Verfügung.
Sortieren, Verpacken und Rückführung
Alle Archivalien werden nach der Wiederherstellung sortiert, verpackt und können dann nach Köln zurückgeführt werden, wenn dort entsprechender Archivraum verfügbar ist.
Abschlußbesprechung
Zum Schluß wurde zu den verschiedenen Stationen der Restaurierung und Digitalisierung weitere Erläuterungen gegeben und die Besucher hatten Gelegenheit, Fragen zu stellen.
Fazit
Der Besuch im Asylarchiv in Münster-Coerde war für mich sehr lehrreich und erhellend. Was bis dahin schon bekannt war, wurde nun augenfällig: Es wird sehr lange dauern, bis die einzelnen Archivalien wieder hergestellt sind. Dann beginnt die Zusammenführung der Bestände. Viele Archivalien werden die Spuren der Beschädigung auch danach sehr deutlich sichtbar tragen und somit auch über das Einsturz-Ereignis Zeugnis ablegen.
Die Arbeit der Archivare und Restaurateure in Münster (und anderswo) ist eine sehr gründliche und sorgfältige. Es wird nichts weggeworfen, auch die kleinsten Stückchen Papier werden aufbewahrt – mit dem Ziel, daraus wieder ein Ganzes zu machen. Das verdient Respekt und Unterstützung.
Eusebius Wirdeier, Dezember 2010
Der Autor dieses Berichts ist Künstler, arbeitet unter anderem mit Fotografie und Buchstaben.
Als Gründungsmitglied ist er seit dem 16. August 2006 im Verein der Freunde des Historischen Archivs der Stadt Köln.
Für Internetseite des Vereins der Freunde des Historischen Archivs der Stadt Köln e. V.
© Eusebius Wirdeier, 2010
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